Gertrud M. Lettau

Gertrud M. Lettau Gertrud M. Lettau
Coronati erimus [1]
Korona-Trilogie 1. Teil

erschienen in: Corona, Philosophische Gedanken zur Covid-19-Pandemie und zum SARS-CoV-2 sowie zu Träumen in Zeiten der Pandemie, hg. v. Psychoanalyse und Philosophie e. V., Düsseldorf

An die Nachgeborenen
I
Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!
Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn
Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende
Hat die furchtbare Nachricht
Nur noch nicht empfangen.
Bertolt Brecht

Korona! Pandemie! Überall und nirgends! Krieg ohne Grenzen, man muss sich der Herausforderung stellen, man muss sich dem Feind widersetzen! Ja? Man muss sich immunisieren! Aber wie? Er ist nicht da und er ist doch da (der Stalker lässt grüßen). Im Fernsehen im Radio in der Zeitung auf Plakaten. Man muss sich ablenken, um nicht verrückt zu werden. Aber mit was? Musik hören, Bücher lesen, spazieren gehen! Alles ist besser als putzen. Aber gerade das soll ja so wichtig sein. Sch... drauf! Das Virus ist ja eine Luftnummer, ein Aerosol, fliegt also durch die Luft, weniger über den Dreck, die Infektion ist also keine Schmierinfektion. Ergo, waschen und putzen wie immer, nichts übertreiben, viel lüften und gesund kochen und dann raus! Lauf... Lauf durch die Straßen, durch die Straßen der Stadt, vielleicht zum Fluss, am Rhein entlang.

Die Sonne ist meistens an ihrem Platz, wie immer um diese Zeit am Himmel zwischen Oberkassel und Niederkassel vom Rheinufer der Stadt aus gesehen. Seltsam, das Wetter ist viel schöner geworden, die Luft viel reiner. Das schwache Leuchten der Sonnenkorona ist mit bloßem Auge nur bei einer totalen Sonnenfinsternis sichtbar.[2] Das Licht ergießt sich golden über den Rhein (Rheingold). Das Strahlenbündel geht mit dir, wohin du auch gehst. Probier' es aus, es ist so! Die Vögel fliegen in Schwärmen dicht über dem Wasser, es will Abend werden. Die Nacht hat sich angekündigt.

Die Liegestühle sind auseinander gerückt worden. "Abstand halten!", heißt jetzt die Devise. Mein Hals kratzt, ist zu trocken, ich muss etwas trinken, will eine kleine Flasche Wasser kaufen an den Buden hinter den Liegestühlen – kostet ein Vermögen. Ich verzichte, soviel Nepp akzeptiere ich nicht! Gerade jetzt nicht!

Es ist so still, so un-erhört still.

Das hatte keiner geahnet – ein einstimmiges 'Ah' aus aller Munde, und dann Totenstille, es war der Moment, da Gott redete und die Menschen horchten.[3]

Die Natur scheint aufzuatmen, leise zu atmen, damit sie nicht gestört wird. Selbst die Vögel sind leiser als sonst, als könnten sie es nicht glauben, dass die Menschen zu Hause bleiben und schweigen. Stumm wie eh und je sind die Fische im Wasser, lautlos singen sie Luftblasen vor Freude, in Ruhe gelassen zu werden, ich bin da ganz sicher. Wenn man genau hinschaut, kann man sie tanzen sehen.

Wie weit hat sich der Mensch von der Natur entfernt? Der Mensch, die Krönung der Schöpfung!

Korona bedeutet Kranz, Krone. Wie auch immer, das Virus scheint nicht die Natur zu treffen, sondern den Menschen. Mensch und Natur sind längst keine Einheit mehr. Nein? Seit wann? "Macht euch die Welt untertan" wurde dem Menschen befohlen. Hat der Mensch versagt? Wer trägt die Schuld der Übertragung? Sind es die Fledermäuse, die Affen oder gar die Schweine? Demeter ist die Göttin der Fruchtbarkeit der Erde, des Getreides, der Saat und der Jahreszeiten. Das Schwein und der Delphin, sowie die Taube gehören zu ihren Tieren, auf denen sie reitet.

Ich sehe gerade den Film Welt auf Abstand: Reise durch ein besonderes Jahr, Dokumentarfilm von Cristina Trebbi und Jobst Knigge (D 2020, 90 Min.).

Korona ist ja eigentlich gar kein Lebewesen, sondern nur ein Teil von ihm. Es braucht ein Anderes um zu leben. Es kommt aus dem Totenreich aus der Differenz von Leben und Tod.

Ich bin ein Teil des Teils, der anfangs alles war,
ein Teil der Finsternis, die sich das Licht gebar,
das stolze Licht, das nun der Mutter Nacht
den alten Rang, den Raum ihr streitig macht.
Und doch gelingst ihm nicht, da es, soviel es strebt,
verhaftet an den Körpern klebt:
Von Körpern strömts, die Körper macht es schön,
ein Körper hemmt's auf seinem Gange;
so, hoff ich, dauert es nicht lange,
und mit den Körpern wirds zugrunde gehn.[4]

Wie das passt. Unsere Altvorderen, in diesem Fall Goethe, haben schon alles vorweggenommen. Das Virus ist teuflisch und es klebt an den Körpern! Vor dem Sterben wird jeder Körper schön.

Man muss nur lange genug geduldig warten, damit alle oder fast alle Gedanken, die einem – in Anlehnung an die aktuellen Krisen, hier die Koronakrise – durch den Kopf gingen, die im Netz teils auch entgleist als mangelhafte Verschwörungstheorien ihre mehr oder weniger glaubhafte Repräsentation fanden. Wenn einmal alle Verschwörungstheorien, na ja, vielleicht nicht alle, manche sind wohl wirklich aus Gründen der allzu großen Abweichung von der Realität zu vernachlässigen, wenn also fast alle Verschwörungstheorien einmal seriös untersucht und die Wahrhaftigkeiten herausgefiltert würden, dann kämen mit Sicherheit erstaunliche Aspekte zum Vorschein, die kaum jemand vorher wusste. Aus diesem Grunde stellt sich die Frage: Müssen wir PhilosophInnen/DenkerInnen/DichterInnen/SchreiberInnen ungestüm kritisch oder überlegt gelassen uns mit dem Korona-Virus und seinen Verschwörungstheorien beschäftigen und ihren Erkenntnisgehalt extrahieren? Ich bevorzuge ein Konglomerat aus (anspruchsvoller)Dichtung und Denken, aus Kultur und Natur.

Inzwischen weiß es wohl jedes Kind, dass Korona übersetzt bedeutet: der Kranz, die Krone.

Das Allererste, was mir in der Anfangszeit – überschwemmt von der Horror-Nachrichtenflut dazu natürlich unangenehm tangiert – einfiel, war: Da hat sich der Mensch, der ja nicht zuletzt auch und besonders Wissenschaftler, Mikrobiologe/Virologe/Physiker und Politiker ist, als die Krönung der Schöpfung, die er ja bekannterweise sich anmaßt zu sein, die Krone aufgesetzt. Doppelkrone also: Halleluja! Crash! Peng!

Plötzlich hörte ich (zwar keine) Stimmen, aber ich erinnerte mich an eine Szene aus der Oper Der Freischütz von Carl Maria von Weber, deren Libretto Johann Friedrich Kind schrieb, in der die Brautjungfrauen Folgendes singen:

Wir winden dir den Jungfernkranz...

...doch die Freude über die bevorstehende Kopfbeschmückung der Braut schlägt in blankes Entsetzen um, als sie in die Schachtel, die Ännchen (die Begnadete) gebracht hatte, schauen und statt des grünen Brautkranzes eine silberne Totenkrone erblicken.[5] Nach dem ersten Schreck und allgemeiner ängstlicher Ratlosigkeit wird einfach auf Agathes[6] Vorschlag ein neuer Kranz geflochten aus geweihten weißen Rosen, die Agathe, die Gute, vom Eremiten erhalten hatte. Am Ende wird alles gut, nur der neidische Rivale wird getötet. Soweit das Libretto der Oper.

Warum fiel mir, die ich ja ganz und gar nicht Expertin auf dem Gebiet der Musik allgemein und der klassischen Musik im Besonderen bin, warum fiel mir ausgerechnet diese Opernszene ein? Ich könnte mich jetzt damit aufhalten, alle Parallelen dieser Oper mit den Geschehnissen um das Virus herum aufzuzeigen: Zum Beispiel wäre die Schachtel: das Medium, die Hardware, sei es der Fernseher oder Laptop, ja auch sogar das Mikroskop im Labor; die Rivalen: da fallen mir mannigfache Möglichkeiten ein, auf jeden Fall die Konkurrenz innerhalb der Wissenschaft, aber auch das Leben versus der Tod; die Braut und die Brautjungfern: Das überlasse ich jetzt Ihrer Vorstellungskraft; der Totenkranz selber: ist als Krone natürlich das Virus Corona, genauer SARS-CoV-2, das in unterschiedlichen Farben medial repräsentierte Modell, da das Original mit bloßem Auge gar nicht zu sehen ist. Und der neu geflochtene Kranz aus geweihten weißen Rosen? Das ist der Impfstoff, oder?

Wir werden gekrönt worden sein, so oder so!?


Anmerkungen

[1] Wir werden gekrönt worden sein! Futur II, Passiv, 1. Person Plural

[2] Nur bei einer totalen Sonnenfinsternis, wenn der scheinbare Durchmesser des Mondes größer als der der Sonne ist, kann die Sonnenkorona beobachtet werden, die sonst vom hellen Licht der Sonne überstrahlt wird.

[3] Adalbert Stifter aus einer sechsseitigen Schilderung anlässlich der Sonnenfinsternis vom Morgen des 8. Juli 1842 in Wien von ihm beobachtet.

[4] J. W. von Goethe, Faust 1, Studierzimmer. (Mephistopheles)

[5] Totenkrone: Es handelt sich dabei hauptsächlich um Kronen oder Kränze, zuweilen auch Mischformen, die in weiten Teilen Europas, aber insbesondere im deutschsprachigen Raum vom 16. Jh. bis in das 20. Jh. vor allem beim christlichen Ledigenbegräbnis eingesetzt wurden: Die Totenkrone erhielten verstorbene ledige Erwachsene beiderlei Geschlechts sowie Kinder und Jugendliche und in seltenen Fällen im Kindbett verstorbene Frauen. Von den Zeugen des Brauchs werden die Totenkronen nicht nur als "Brautkrone", sondern auch als "Tugendkrone" bezeichnet. (www.rdklabor.de/wiki/Totenkranz,_Totenkrone, Dr. Yvonne Schmuhl.)

[6] Die Namensbedeutung von Agathe ist: Die Gute.